Dr. Peter Niehenke:

Werde, der du bist!

- Psychotherapeutische Aspekte astrologischer Beratung

Gekürzte Fassung eines Vortrags an einer Astrologen - Tagung vom 5. 2. 1982


Astrologen und Psychotherapeuten haben vorwiegend mit Menschen zu tun, die in Not sind. Diese Not kann ganz verschiedene Gesichter haben: Schwierigkeiten im Beruf, finanzielle Sorgen, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Probleme mit dem Partner, Minderwertigkeitsgefühle, verschiedenste konkrete und irrationale Ängste, Depressionen, Lernschwierigkeiten - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

 

Die Frage der Zuständigkeit

Wie nun geht der Astrologe und wie der Psychotherapeut mit diesen Schwierigkeiten um? Wie meint der eine und wie der andere den in Not befindlichen Menschen helfen zu können? Was soll durch seine entsprechende Hilfe genau erreicht werden? Gibt es Probleme, für die der Astrologe und andere, für die der Psychotherapeut zuständig ist? Auf die letzte Frage werden viele sicherlich spontan mit „Ja, natürlich!“ antworten wollen. Sie werden vielleicht argumentieren, dass etwa finanzielle Sorgen oder bestimmte Arten beruflicher Probleme eher in den Zuständigkeitsbereich des Astrologen fallen dürften, die Behandlung von Minderwertigkeitsgefühlen oder Lernschwierigkeiten dagegen eher in den des Psychotherapeuten. Diese Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche scheint auf den ersten Blick auch durchaus einleuchtend. Aber ist seelisches Leid und schwieriges „äußeres“ Schicksal wirklich etwas so Verschiedenes?
 

Der Dichter Novalis sagt: „Schicksal und Seele sind zwei Namen für dasselbe Prinzip.“ Viele Astrologen würden sich wohl irgendwie für die schicksalhaften Erlebnisse bzw. Ereignisse zuständig fühlen, am ehesten vielleicht im Sinne des Schicksals, das uns „widerfährt“. Viele Psychotherapeuten würden sich am ehesten für das zuständig fühlen, was Novalis als Seele bezeichnet. Sich der Auffassung von Novalis anzuschließen, dass beides letztlich dasselbe sei, und diese Auffassung zur Grundlage der eigenen Arbeit zu machen, ist eine Entscheidungs- letztlich wohl eine Glaubensfrage. Ich habe mich entschieden, von dieser Annahme auszugehen, sie zur Grundlage meiner astrologischen und therapeutischen Arbeit zu machen. Für mich ist alles, was eine Person erlebt, direkter Ausdruck ihres Wesens. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es fruchtbar ist, mit dieser Grundannahme an meine eigenen Probleme und die Probleme meiner Klienten heranzugehen.

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Was erwartet der Rat- und Hilfesuchende?

Die Auffassungen des Therapeuten jedoch sind nur eine Seite in dem Prozess einer Beratung. Welche Art Hilfe erwartet denn der Klient, wenn er zu einem Psychotherapeuten geht oder aber zu einem Astrologen? Welche Auffassung hat er vom „Wesen“, von den tieferen Ursachen seiner Schwierigkeiten, seines Leids? Will er etwas anderes, wenn er zu einem Psychotherapeuten geht, als wenn er zu einem Astrologen geht? Auch hier scheint auf den ersten Blick wieder ein „Ja!“ die richtige Antwort zu sein. Auch ich selbst habe, als ich im Jahre 1975 meine Praxis als Berufsastrologe eröffnete, eine entsprechende Trennung vollzogen. Als Astrologe empfand ich mich als „Diagnostiker“. Mein Bestreben ging dahin, möglichst treffende und differenzierte Diagnosen zu stellen.
 
Es erfüllte mich z. B. mit Stolz, wenn Klienten nach der Beratung sagten: „Ja, genau so bin ich! So gut hat es noch nie jemand ausdrücken können. So gut hätte ich selbst es nicht sagen können“. Ob im Bereich der Charaktereologie, für den ich mich zuständig fühlte, oder im Bereich der Prognose, den andere Astrologen wichtiger nehmen: Diagnostiker sind beide! Der Diagnostiker stellt fest, wie ein Charakter oder wie eine Situation tendenziell ist bzw. wie sie sein wird. Je länger ich auf diese Weise arbeitete, um so weniger befriedigte mich diese Art des Diagnostizierens. Einmal schrieb mir ein Klient in einem Brief nach Erhalt eines schriftlichen Gutachtens: „Vielen Dank für Ihr Gutachten. Es hat mich sehr überrascht. Es grenzt fast an Wunder, wie genau Sie mich beschrieben haben...

 
Nachdem Sie meine Stärken und Schwächen so genau analysiert haben, bitte ich Sie freundlichst, mir auch mitzuteilen, wie ich mit den von Ihnen aufgezeigten Problemen fertig werde“. Diese Bitte machte mir endgültig klar, dass ich astrologische Arbeit von therapeutischer Arbeit nicht trennen kann. Ich war im ersten Moment geneigt, dem Klienten zu antworten, dass er sich an einen Psychotherapeuten in seiner näheren Umgebung wenden solle. Ich hatte diagnostiziert: Eine astrologisch begründete „Therapie“ hatte ich nicht. Und Ratschläge nach dem „gesunden Menschenverstand“ unter Rückgriff auf „bewährte Hausrepzepte“ für den Umgang mit seelischen Problemen zu erteilen, wie es die meisten Astrologen in einem solchen Fall tun, dazu war ich dann doch schon nicht mehr „naiv“ genug, war schon zuviel Psychologe.

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Wenn konkrete Fragen gestellt werden

Die beschriebene Situation kommt oft vor. Es beginnt damit, dass sich ein Klient an mich wendet, scheinbar nur mit der Bitte um eine ganz klare Auskunft. Da kommt eine Frau in mittleren Jahren zu mir, seit 20 Jahren verheiratet, die plötzlich von ihrem Mann verlassen wurde. Sie kommt mit der Frage: „Wird mein Mann zu mir zurückkehren?“ Selbst wenn ich ihr aufgrund meiner Berechnungen eine definitive Antwort darauf geben könnte (ich kann es natürlich nicht!): War das zu erfahren der alleinige Grund, war es überhaupt wirklich der Grund, warum sie zu mir kam? Habe ich ihr „geholfen“? Deutlich wird die Berechtigung meines Zweifels bei vielen Klienten, die von sich aus weiterfragen: „Habe ich vielleicht etwas falsch gemacht? Wie werde ich mit der neuen Lebenssituation fertig? Was soll jetzt werden? Was soll ich tun?“ Der Klient möchte Rat, sucht eine Orientierung. Er leidet und er sucht einen Weg, dieses Leid zu verarbeiten, neuem Leid aus dem Wege zu gehen.
 
Er möchte, dass es ihm wieder besser geht. An dieser Stelle ist die Ausgangssituation für Therapeuten und Astrologen identisch: Beide stehen vor der Frage, was zu tun sei, und, meiner Ansicht nach auch vor der Frage, wie das eigene Tun begründet werden kann. Wenn ich helfen will, muß ich nämlich ein Ziel wissen: Was soll sich durch meine Hilfe verändern? Wann will ich meine Hilfe als erfolgreich betrachten? Dem direkt und gradlinig denkenden Menschen mag diese Frage sinnlos erscheinen. Er mag denken: „Wenn es dem Klienten besser geht, dann war die Hilfe richtig“. Aber leider ist es so einfach nicht! Denken Sie an einen Patienten mit Einschlafstörungen: Er bekommt vom Arzt Schlaftabletten, und es geht ihm besser. Nach und nach jedoch gewöhnt er sich an die Tabletten und braucht immer stärkere Dosierungen und ist schließlich tablettensüchtig (um einen krassen aber leider keineswegs unwahrscheinlichen Fall zu konstruieren).
 
Vielleicht waren finanzielle Sorgen die Ursache der Einschlafstörungen des Patienten, oder es waren Probleme in der Ehe. Eine Bereinigung dieser Schwierigkeiten hätte das Symptom Einschlafstörungen nachhaltig zum Verschwinden bringen können, ohne „Nebenwirkungen“. Es ist eine Frage der Wahl des Bezugssystems: Der Arzt hier hatte ein rein materielles, so will ich es einmal ausdrücken, ein physiologisches Bezugssystem. Einschlafstörungen sind für ihn, vereinfacht ausgedrückt, der Ausdruck überhöhter Aktivität des vegetativen Nervensystems, was er mit chemischen Mitteln zu korrigieren versucht. Innerhalb seines Bezugssystems eine konsequente und vernünftige Entscheidung - seine Hilfe ist ja auch wirksam. Dieses Bezugssystem sieht den Körper vorwiegend als ein funktionelles System, und menschliches Leid, sei es nun körperlich oder äußere es sich psychisch, ist im wesentlichen Ausdruck einer Störung dieses sehr störanfälligen Systems.

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Die Frage nach Ursprung und Wesen des menschlichen Leids

Wenn seelisches Leid nun noch etwas anderes sein sollte als eine funktionelle Störung im chemischen Haushalt unseres Körpers: Was ist es denn? Die Frage nach Wesen und Ursachen menschlichen Leids wurde in den verschiedenen Epochen menschlicher Geschichte sehr verschieden beantwortet: Rache oder gar Willkür der Götter, böse Geister, die Strafe Gottes für unmoralisches Verhalten, das heißt für Verstöße gegen seine Gebote; in östlichen Kulturkreisen: Karma; in unserer Zeit die erwähnte Auffassung von einer funktionellen Störung, die gegebenenfalls im Zusammenhang mit der Vererbung gesehen werden muß, aber auch Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit oder einfach mehr oder weniger zufällig erfolgtes „falsches Lernen“.
 
Sogar das, was eigentlich als Leid anzusehen sei, wurde zu verschiedenen Zeiten in unserer Geschichte und wird immer noch in verschiedenen Kulturen, wie sie heute bestehen, verschieden bewertet: Denken wir an die Stellung der Frau in Ländern des Orients. Denken wir etwa an das Fehlen von Liebe in der Ehe, das „Nebeneinanderherleben“ von Ehepaaren (wie sie selbst es oft nennen). Dieses Fehlen von Liebe war in den reinen Zweckehen des Mittelalters eine Selbstverständlichkeit. Dort war es schließlich noch üblich, dass die Eltern ihren Kindern die Ehepartner aussuchten. Die „Liebesehe“ ist eine Erfindung beziehungsweise Errungenschaft der letzten zwei bis drei Jahrhunderte.
 
Heute jedoch führt diese damals selbstverständliche Situation oft einen oder beide Partner in die Sprechstunde eines Psychotherapeuten oder eines Astrologen. Aber auch innerhalb unserer heutigen Kultur, ja sogar unter den Menschen, deren Beruf die Heilung oder Linderung menschlichen Leids ist, (also z. B. Ärzte und Psychotherapeuten) gibt es, wie schon angedeutet, keine einheitlichen Vorstellungen über Wesen und Ursachen menschlichen Leids, über Wege und Möglichkeiten der Therapie oder gar über die Ziele, die durch solche Therapie angestrebt werden sollen.

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Ziel und Zweck einer Therapie

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, gab auf die Frage, was denn das Ziel der analytischen Therapie sei, zur Antwort, ein Patient könne nach erfolgreich abgeschlossener Therapie wieder „lieben und arbeiten“. Dieses Ziel wirklich zu erreichen, bedeutet tatsächlich viel, mehr jedenfalls, als es auf den ersten Blick für manche scheinen mag. Eine bedeutsame und befriedigende partnerschaftliche Beziehung eingehen zu können, sich auf diesen hohen Grad an Nähe zu einem Menschen einlassen zu können, setzt innere Stabilität voraus. Der Weg, der zu dem Ziel, wieder „lieben und arbeiten“ zu können,führt, ist bei Freud die psychoanalytische Technik.
 
Sie zielt im wesentlichen darauf ab, Unbewußtes bewußt zu machen: Der Patient lernt, mit seinen un-bewußten und damit der Kontrolle durch das bewußte Ich entzogenen Triebkräften und Ängsten bewußt umzugehen. Er ist dann nicht mehr der von unverstandenen inneren Kräften oder Impulsen Getriebene, nicht mehr Opfer, sondern handelnder und damit reifer, erwachsener Mensch. Es ist nämlich, um diesem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, nicht das Ziel irgendwelcher Therapie, aus einem „unglücklichen“ Menschen einen „glücklichen“ Menschen zu machen. Auch der Therapeut kann die Fakten, die mich unglücklich machen,nicht aus der Welt schaffen. Was der Therapeut kann, drückt Sigmund Freud sinngemäß so aus: Aus neurotischem Leid soll gewöhnliche menschliche Trauer werden.
 
Ganz anders sind die Vorstellungen über Ursachen, Wege und Ziele in der sog. Verhaltenstherapie (ein Begriff, der auf den Psychologen H. J. Eysenck zurückgeht). Für den Verhaltenstherapeuten entsteht, vereinfacht ausgedrückt, seelisches Leid z. B. durch falsche LernProzesse. Diese falschen LernProzesse führen zu „unangepassten“, zu den realen Verhältnissen inadäquaten Verhaltensweisen, die daher meist negative, unlustbetonte Konsequenzen haben. Korrigierbar sind solche Verhaltensweisen auf die gleiche Weise, wie sie entstanden, durch Lernen: Neu- Erlernen neuer Verhaltensweisen oder Umlernen.

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Die Hilfsmöglichkeiten des Astrologen

Wie würden nun wir als Astrologen es sehen? Wie sehen wir seelisches Leid? Welche Wege können wir gehen, astrologisch begründet dieses Leid zu lindern? Gibt es solche Wege? Oder sind Astrologen, wie oben schon angesprochen, auf den sog. „gesunden Menschenverstand“ und „bewährte Hausrezepte“ angewiesen? Ich denke, auch unter Astrologen gibt es keine einheitliche Vorstellung über das Wesen menschlichen Leids; ganz sicher gibt es keine einheitliche Vorstellung - aus der Astrologie abgeleitete Vorstellung - darüber, wie man Menschen in Not helfen kann. Es gibt ja nicht einmal Einigkeit darüber, was denn das Horoskop„eigentlich“ bedeutet, welche Art von Aussagen man aus dieser graphisch dargestellten Konstellation der Gestirne, wie sie im Moment der Geburt eines Menschen bestand, ableiten kann. Es gibt z. B. die „Total-Fatalisten“, die so weit gehen zu behaupten, buchstäblich jeder Schritt eines Menschen sei aus dem Horoskop ablesbar, wenn man nur die richtige Methode kenne und genau genug rechne. Abgesehen davon, dass viele Astrologen m. E. den Unterschied von Symbol und Entsprechung nicht beachten. (Jedes astrologische Symbol ist ja in bezug auf die konkrete Lebenswirklichkeit, auf die es sich bezieht, vieldeutig), bleibt auch immer die Frage ungeklärt, was solche „Fahrpläne des Schicksals“ den Ratsuchenden helfen sollen.
 
Müssen sie sich nicht als passive, weil machtlose und ausgelieferte Passagiere eines Zuges empfinden, von dem ihnen bestenfalls der Astrologe noch den Zielbahnhof nennen kann (wie er meint)? Auf die Frage: „Was soll ich tun?“ kann doch ein solcher Astrologe konsequenterweise keine Antwort geben: Es geschieht doch ohnehin immer das, was geschehen muß. Da mir bisher niemand diese Annahme überzeugend plausibel machen konnte, habe ich mich jedenfalls entschieden, sie zu verwerfen, auch deshalb, weil sie unfruchtbar ist! Sie nimmt mir die Verantwortung für mein eigenes Schicksal vollständig aus der Hand. Damit nimmt sie mir aber auch die Motivation, irgend etwas anderes zu tun, als mich einfach treiben zu lassen. Der weitaus größere Teil der heute arbeitenden Astrologen sieht auch tatsächlich im Horoskop nicht einen „Fahrplan des Schicksals“, sondern ein Strukturbild, das, in symbolischer Form verschlüsselt, das Gefüge meines „Grundcharakters“ widerspiegelt. Das Horoskop ist in dieser Lesart ein Gleichnis, und es gibt unendlich viele konkrete Lebenswirklichkeiten, konkrete Erlebnisse, konkrete Fakten, die dieses Gleichnis „erfüllen“ können.
 
Aber obwohl es unendlich viele konkrete Lebenssituationen gibt, die diesem Gleichnis entsprechen können, so sind sie dennoch nicht einfach „beliebig“ - um einem möglichen Einwand gegen die Astrologie gleich zu begegnen. Wir können auch auf unendlich viele Arten ein Dreieck zeichnen, aber es ist dennoch nicht beliebig, was wir zeichnen: Ein Dreieck ist eben etwas anderes als ein Viereck! Ich meine, aus dieser Auffassung läßt sich über das Wesen und die tieferen Ursachen menschlichen Leids etwas ableiten: Wie ich weiter oben beschrieben habe, unterscheidet Sigmund Freud zwei Arten von Schmerz oder Leid. Er sagt, dass Psychotherapie nicht das Ziel habe, aus einem unglücklichen Menschen einen glücklichen Menschen zu machen, sondern neurotisches Leid in gewöhnliche menschliche Trauer zu verwandeln. In Analogie zu dieser Formulierung würde ich vom Horoskop her ebenso zwei Arten menschlichen Leids unterscheiden: Die eine will ich die „gesunde“, die andere die „kranke“ Art von Leid nennen. Meiner Meinung nach entsteht die Art von Leid, die wir als Krankheit empfinden, als „Gestörtheit“; die ungesunde Art von Leid dadurch, dass ich mich von dem im Horoskop ausgedrückten Grundcharakter entferne, dass ich ihn verleugne, unterdrücke oder auch nur ablehne !

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Wenn sich ein Mensch selbst ablehnt

Es gibt sehr verschiedene Gründe dafür, wie es zu einer solchen Unterdrückung oder Ablehnung des eigenen Grundcharakters kommen kann. Ein leicht einleuchtendes Beispiel ist die Situation einer Frau, deren Horoskop eine starke Mars-Komponente aufweist, oder die Situation eines Mannes, dessen Horoskop eine starke Venus- oder Mondbetonung aufweist. In einer Gesellschaft, in der eine strenge Trennung der Geschlechterrollen vorgenommen wird, wie es bis vor ganz kurzer Zeit in unserer Gesellschaft der Fall war, muß sich ein zu sensibler Mann mit einer Betonung weiblicher Wesensmerkmale oder eine zu robuste Frau mit einer Betonung männlicher Wesensmerkmale als minderwertig empfinden, können doch beide nicht den an sie gerichteten Anforderungen der vorgeschriebenen Geschlechterrollen gerecht werden, es sei denn um den Preis ihrer Selbstverleugnung.
 
Dieser Preis wird allerdings im allgemeinen bezahlt. Die Situation kann also dazu führen, dass ich selbst meine ureigenste Wesenart ablehne. Es ist meines Erachtens unmittelbar einleuchtend, dass eine solche Ablehnung leidvolle Konsequenzen für das betreffende Individuum haben muß. Es gibt aber auch, um auf das sog. „gesunde Leid“ zu kommen, in jedem Leben ein bestimmtes Maß an Schmerz, das darin besteht, mit den in dieser Welt unvermeidlichen Begrenzungen meiner Bedürfnisbefriedigung, mit sog. Frustrationen also, fertig zu werden. Die Bewältigung solcher Herausforderungen des Schicksals ist gesundes, weil meiner Ansicht nach wachstums- und reifungsförderndes Leid. Ein gewisser Teil dieser Begrenzungen dürfte übrigens gerade durch meinen Grundcharakter, wie er in der Struktur des Horoskops versinnbildlicht ist, festgelegt werden.
 
Ich erinnere an Novalis: Schicksal und Seele sind zwei Namen für dasselbe Prinzip. Aus diesem Schmerz entsteht wirkliches Leid in seiner ungesunden Form gerade oft dadurch, dass ich versuche, diesem Schmerz aus dem Wege zu gehen, was nämlich bedeutet, mich von meinem Grundcharakter zu entfernen. Vergessen wir gerade in diesem Zusammenhang nicht, dass nicht das Faktum als solches zählt, sondern die Bedeutung, die es für mich hat. Nicht das Ereignis selbst tut weh, sondern mein Schmerz bezieht sich auf etwas, was durch das Ereignis in mir ausgelöst wird. Was kann ich aus dieser Charakterisierung menschlichen Leids ableiten, um Menschen, die leiden, die in Not sind, zu helfen?

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Die Versöhnung mit dem eigenen Grundcharakter

Wenn das Horoskop meinen Grundcharakter widerspiegelt, und wenn die Annahme richtig ist, dass eine Verleugnung, Unterdrückung oder Ablehnung meines Grundcharakters Quelle von Leid darstellt, dann ist die Maxime astrologisch fundierter therapeutischer Arbeit das, was ich „Versöhnung mit meinem Grundcharakter“ nennen möchte! Man kann diesen Umstand auf verschiedene Weise ausdrücken. Der bekannte amerikanische Astrologe Dane Rudhyar drückt es so aus, dass das Horoskop für ihn eine „Instruktion“ darstellt: Es sagt nicht aus, wie jemand ist, sondern wie jemand sein sollte! Man könnte hinzufügen: sein sollte, um in Harmonie mit seiner grundlegenden Natur zu sein beziehungsweise zu leben. Mit noch anderen Worten heißt dies: Werde, der du bist!
 
Es macht einen sehr großen Unterschied, ob ich ein Horoskop als Charakterbild sehe, das mir einen Ist-Zustand zeigt, das mir, wie der oben erwähnte Klient es in seinem Brief an mich ausdrückte, meine Stärken und Schwächen analysieren hilft, oder ob ich es als den Entwurf von etwas sehe, auf das hin ich mich entwickeln sollte, als etwas, das ich anstreben sollte. Der Unterschied liegt auf der Hand: Es gibt in letzerem Fall im Horoskop nichts, was ich vermeiden, abschwächen oder auch nur besonders wachsam kontrollieren müßte. Im Gegenteil: Jeder Aspekt des Horoskops bezeichnet einen Teil meiner Selbstentfaltung, der ein Recht auf Realisierung hat, der realisiert werden muß, damit ich „heil“, das heißt ganz bin und in Harmonie mit mir selbst lebe! Das Horoskop ist auf diese Weise zwar kein „Fahrplan für mein Schicksal“, aber ein Leitfaden für meine Selbstverwirklichung, um diesen heute so modernen Begriff dafür zu gebrauchen.

 
Ich möchte zum Schluß an einem konkreten Konstellationsbeispiel deutlich zu machen versuchen, was die Umsetzung meiner Maxime in bezug auf traditionell „kritisch“ angesehene Konstellationen praktisch bedeutet. Das Beispiel bezieht sich auf die Thematik des 12. Hauses oder Feldes. Nehmen wir als Ausgangspunkt die Beschreibung der Bedeutung des 12. Feldes durch den Arzt und Astrologen H. Freiherr von Kloeckler: „In dieser Felderzone kommen Tendenzen zum Ausdruck, die leicht zu äußerer Hemmung und Isolation führen. Mit der Neigung zu äußerer Wirkung verbinden sich bei starker Besetzung des Feldes seelische Zurückhaltung, Abwendung und in manchen Fällen auch asoziale beziehungsweise kriminelle Anlagen und Neigungen. Das Leid und das Leidensmotiv ist meist sehr ausgeprägt, körperliche und seelische Erkrankungen kommen in Planetenpositionen des 12. Feldes zum Ausdruck . . .“

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Die Umwandlung einer Diagnose in eine Instruktion

Es handelt sich bei dieser Beschreibung des 12. Feldes, wie auch aus einigen Formulierungen deutlich wird, um auf Erfahrung gegründete Beschreibungen typischer, häufiger Entsprechungen für das astrologische Symbol: 12. Feld. Die Beschreibung ist vom Ansatz her diagnostisch, und um sie therapeutisch im Sinne unserer Maxime nutzen zu können, muß man sie in eine „Instruktion“ umwandeln. Es leuchtet ein, dass diese Instruktion keine Vorschrift über konkretes Verhalten beinhalten kann, denn das würde der symbolischen Grundlage dieser „Instruktion“ auch nicht gerecht, wäre eine Variante fatalistischer Deutungen.
 
Die Instruktion kann sich natürlich nur auf „Grundlegendes“ beziehen; letztlich bezieht sie sich auf das, was die Konstellation „eigentlich“ bedeutet. Meiner Ansicht nach - und diese Ansicht ist stark beeinflußt von der Psychotherapeutin und Astrologin Liz Greene - symbolisiert das 12. Feld Bedürfnisse und Impulse des Menschen, die auf das Kollektiv aller Menschen, letztlich wahrscheinlich auf die Gattung Mensch bezogen sind. Irgendwie hat dieses Feld eine Nähe zum Opfer: das Aufgeben ichbezogener Bedürfnisse zugunsten kollektiver Bedürfnisse oder Erfordernisse. Eine starke Besetzung des 12. Feldes bedeutet vermutlich für das Individuum einen starken Impuls in Richtung „Opfer für Gruppenerfordernisse“. Das ist der Grund, warum wir so viele dieser Menschen in sozialen Berufen antreffen . In unserer Gesellschaft jedoch hat Opfer einen unangenehmen Beigeschmack. Derartige Bedürfnisse erscheinen als unverständlich, wenn nicht als krank.
 
Unser Zeitgeist ist individuenbezogen. Aber nicht nur für andere, auch für das Individuum selbst sind seine Bedürfnisse unverständlich, vielleicht sogar ängstigend, und er mag sich dagegen wehren. Dieses Wehren kann so weit gehen, dass sich der Impuls, sich für andere zu opfern, in sein totales Gegenteil verwandelt; dann haben wir den von Freiherr von Kloeckler erwähnten Kriminellen, der mehr nimmt, als ihm zusteht. Doch das Eigentümliche des Grundcharakters ist, dass er einen sehr starken Drang nach Realisierung hat, und die pure Unterdrückung oder Verleugnung nimmt ihm nicht seine Kraft, sondern diese Kraft wird nur „gestaut“. Kerker oder gewaltsame Selbstzerstörung sind so vielleicht verstehbar als verzerrte Formen der Realisierung der gerade beschriebenen ursprünglichen Impulse.

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In der praktischen Beratungssituation

Die Vermittlung solcher Gedanken an den Klienten setzt u. U. ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen voraus, denn einem dafür nicht aufnahmebereiten Menschen zu erklären, seine Probleme würden verschwinden, wenn er seinem Bedürfnis, sich für andere zu opfern, nachgeben könnte, kann ja nur auf Unverständnis oder aggressive Abwehr stoßen. Ich formuliere bestimmte Eindrücke aus dem Horoskop in der Beratungssituation daher oft als Frage: „Wie empfinden Sie eigentlich Menschen, die sich selbst für andere aufopfern ?“ „Wie meinen Sie das: aufopfern ? Meinen Sie Märtyrer?“ „Ja, wir können mal als Beispiel Märtyrer nehmen.“ „Fürchterlich empfinde ich die! Keinen Sinn fürs Kämpfen! Irgendwie widert mich so was auch an.“ So könnte vielleicht jemand antworten, der die Sonne im Widder im 12. Feld stehen hat.
 
Ich würde vielleicht weiter fragen, was so widerlich an diesen Leuten ist, würde auf diese Weise versuchen, ihn selbst diesen Teil seines Grundcharakters entdecken zu lassen. Psychologisch gesprochen geht es bei dem Prozess, den ich hier beschreibe, um die Entdeckung und Verarbeitung dessen, was C. G. Jung den „Schatten“ nennt. Der Schatten umfaßt all die Teile meiner Person, die ich, kurz gesagt, an mir nicht ausstehen kann. Am wenigsten problematisch sind dabei die Teile meiner Person, derer ich mir bewußt bin, die ich aber dennoch ablehne. Schwierig wird es mit den Anteilen meiner Person, die ich so stark ablehne, dass ich Angst habe, sie als zu meiner Person gehörig anzuerkennen. Wir müssen die dunkle Seite in uns lieben lernen, erst dann kann sie uns zeigen, welches ungeheuere Potential auch in diesem Teil meiner Person steckt und wie wichtig dieser Teil ist, damit ich in Harmonie mit mir selbst leben kann. .
 
Für mich als Therapeut besteht die große Schwierigkeit darin, dass auch ich ja in einem Prozess stecke und dass viele der Schatten-Figuren meiner Klienten auch mir Angst einflößen, dass ich viele Impulse bei mir nicht annehmen kann und dann auch beim Klienten nicht annehmen kann. Wie soll er aber mit meiner Hilfe lernen, seinen Schatten zu lieben, wenn ich diesen Schatten aus den gleichen Gründen wie er ablehne?

Fazit:

Hier zeigt sich, dass ich als Astrologe wie als Therapeut einen Klienten immer nur bis zu der Stelle begleiten kann, bis zu der ich selbst angstfrei gehen kann. Ein Klient kommt, zumindest als Folge meiner Hilfe, immer nur bis zu dem Punkt, bis zu dem auch ich mich entwickelt habe. Dieses Wissen verpflichtet den Astrologen wie den Psychotherapeuten zu stetiger Arbeit an sich selbst. Zur Ausbildung des Psychotherapeuten gehört, dass er selbst eine Psychotherapie absolviert. Es gibt gute Gründe, dies auch für Astrologen zu fordern
       
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